Entstehung der Rokoko-Gruppe
Erstmals in der Stiftungsurkunde des Klosters St. Georgen von 1083 unter dem Namen „Bibra“ erwähnt, konnte die Stadt Biberach 1983 auf ihr 900-jährigesBestehen zurückblicken. Dieses Jubiläum sollte unter Einbeziehung möglichst großer Teile der Einwohnerschaft Biberachs festlich begangen werden. Bürgerinnen und Bürger der ehemals Freien und Reichsstadt waren dazu aufgerufen, sich durch ihr persönliches Engagement an diesem historischen Fest zu beteiligen. Im April des Jahres 1983 kamen Angehörige der Schützendirektion, Mitglieder des Thomae-Tanzzirkels und des Dramatischen Vereins in der Schützenkellerhalle zusammen. Hier wurde die Aufstellung einer aus 24 Tanzpaaren bestehenden Gruppe, die historische Tänze aus der Zeit des Rokoko vorführen sollte, beschlossen und die damit im Zusammenhang stehenden Fragen, wie die Rolle der einzelnen Personen und die Kostümierung, besprochen.
Die Ausstattung der Tänzerinnen und Tänzer, die den Adel der Umgebung und die Spitzen der Biberacher Stadtrepublik darstellen sollten, erfolgte nach Entwürfen des Trachten- und Kunsthistorikers Jürgen Hohl aus Eggmannsried. Dabei wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass Persönlichkeiten, die damals wirklich lebten, verkörpert wurden und ihrem Stand gemäß eingekleidet waren : Adelige reicher und prächtiger als Biberacher Bürger, evangelische Paare in gedeckteren, katholische Paare in kräftigeren Farben. Wertvolle Stoffe wurden beschafft und verarbeitet, die Gewänder der Damen von diesen in vielen Stunden und teils mühevoller Arbeit unter fachkundiger Anleitung überwiegend selbst gefertigt. Kunstvoll gearbeitete Perücken, dem Stand und Rang entsprechend, vervollständigten schließlich die Ausstattung.
Unter fachkundlicher Leitung von Frau Lenchen Busch, regelmäßige Referentin an der Biberacher VHS und gefragte Dozentin für historische Tänze verschiedener Epochen, begannen die Paare in einem Wochenendseminar im September 1983 und ab Oktober in regelmäßigen wöchentlichen Übungsabenden mit viel Begeisterung unter der Anleitung von Traudel Michahelles und Martin Rösler die notwendige Körperbeherrschung zu erarbeiten und Schritte für die Tänze des 18. Jahrhunderts, dem „tanzenden Zeitalter“, einzustudieren.
Es kostete manche Mühen und Schweißtropfen, bis am 22. Juni 1984 der Tag des großen Auftritts gekommen war. In der vollbesetzten Biberacher Stadthalle zeigten vier Gruppen unter dem Motto „Tanz durch die Jahrhunderte“ Bauerntänze aus dem 16. Jahrhundert, Renaissancetänze des 17. Jahrhunderts, Rokokotänze des 18. Jahrhunderts und Tänze der Bismarck-Zeit, wie sie in Kreisen der „Bürgergesellschaft“ im 19. Jahrhundert üblich waren. Jede Gruppe hatte ihre eigene Live-Musik. Die Rokoko-Tanzmusik wurde vom Jugendsymphonieorchester Biberach unter Leitung von Musikdirektor Peter Marx gespielt, der auch die notwendigen Arrangements der Tanzmusik besorgt hatte.
Im Rahmen dieses "Tanz durch die Jahrhunderte" stellte die Rokokogruppe ein gedachtes Ballereignis auf Schloss Warthausen im Jahre 1768 dar, zu dem Graf Friedrich von Stadion den Adel der Umgebung, das Patriziat der Stadt Biberach und den "Dichter und Cantzelley-Verwalter" Christoph Martin Wieland aus Anlass seiner Aussöhnung mit der Stadt Biberach eingeladen haben könnte. Die Ballgäste wurden mit Rang und Namen durch den Zeremonienmeister vorgestellt, der als Maître de Danse auch die Tänze ankündigte.
Die in der Stadthalle so beeindruckende Veranstaltung wurde im Rahmen der Festwoche am 26. Juni im Vorfeld des Biberacher Schützenfestes ein zweites Mal, diesmal vor der Kulisse des Biberacher Marktplatzes als Open-Air-Veranstaltung vor einem ebenfalls begeisterten Publikum nochmals durchgeführt. Der „Tanz durch die Jahrhunderte“ wurde, wie konnte es anders sein, ab dem darauf folgenden Jahr fester Bestandteil des Biberacher Schützenfestes.
(Text: Rolf Schönig)
In den Folgejahren wurde ein kleines Ensemble mit vier Streichern und vier Bläsern zusammengestellt, das auf dem Biberacher Marktplatz zum Rokoko-Ball aufspielte. Aus den im Laufe der Zeit zahlreicher verfügbaren Quellen hat Martin Rösler das Tanzrepertoire erweitert und erneuert sowie eigene Choreografien entwickelt. Auch größere Projekte wurden in Angriff genommen: 2006 ein abendfüllendes Bühnenprogramm »Mozart bittet zum Tanz« (u. a. mit der bekannten Tanzszene aus dem Finale des 1. Akts des Don Giovanni, wobei die drei Tänze Menuett, Kontratanz und Deutscher von drei kleinen Ensembles gespielt und von drei Gruppen getanzt wurden). Dabei übernahmen die Mitglieder der Tanzgruppe auch die Rolle von Schauspielern und Chorsängern und präsentierten – durch Gesangssolisten ergänzt – eine abwechslungsreiche Mischung aus Musik, Gesang, Tanz und szenischem Spiel. Ein ähnliches Projekt (»ein Haydn-Spektakel«) wurde im Haydn-Jahr 2009 umgesetzt.
Verschiedene auswärtige Auftritte führten die Gruppe als kulturelle Botschafter in die Partnerstädte Biberachs, als Gäste zu historischen Stadtfesten und anderen Anlässen in der näheren und weiteren Umgebung.